Jahrestag des Einmarsches der Roten Armee in Schlesien

Entnommen aus dem „SCHLESISCHES WOCHENBLATT“ Die Zeitung der Deutschen in der Republik Polen vom 10. Januar 2002.

Der Januar 1945 hat sich dem Gedächtnis der Schlesier und Deutschen für immer eingeprägt. Für viele vor 1945 Geborene waren es die tragischsten Tage ihres Lebens. Die aus ihren Häusern vertriebenen Deutschen begannen ein neues Leben, und die zurückgebliebenen bodenständigen Bewohner dieser Gebiete ertrugen mit Mühe die polnische Wirklichkeit.
Anfang Januar 1945 bereiteten sich die Armeetruppen der ersten ukrainischen Front auf eine schwerwiegende Operation vor. In deren Folge wurden in den Tagen vom 12. Januar bis zum 7. Februar wesentliche Teile des Oppelner Landes besetzt. Eine Evakuierung und dann eine Massenflucht der Deutschen setzte ein. In Nieder- und Oberschlesien blieben jedoch etwa 50 Prozent der alten Einwohner zurück. Sie erlebten zum Jahresanfang 1945 die schwierigsten Tage ihres Lebens.

Die Eroberung:
Ältere Schlesier im Oppelnar Land assoziieren das Nachkriegspolen mit Horden ausgehungerter sowjetischer Soldaten, die verbrannten, plünderten, töteten und vergewaltigten, sowie mit Diebesbanden, die nach ihnen folgten. Sie können nur schwer mit Freude an jene „Befreiung” zurückdenken. Deshalb nennen wir diese Geschichtsperiode heute eher Eroberung als Befreiung. Die Eroberer vom Zeichen des roten Sterns verhielten sich gemäß dem Aufruf von Ilja Erenburg, wonach ein Tag, an dem man keinen Deutschen getötet habe, ein verlorener Tag gewesen sei. Mit Schlesien begann für sie bereits Deutschland und damit der Landbesitz ihres größten strategischen Feindes, „Gitljer”, (Hitler) und eines ideologischen Widersachers, des „Kulaken”. Man musste sich also nicht zurückhalten. Zu Morden und Misshandlungen kam es in Oberschlesien unter anderem in Beuthen, wo fast 400 Menschen ums Leben kamen, aber auch in Gleiwitz, Hindenburg und Ratibor. Gewalttaten gab es in beinahe jeder Ortschaft rund um Oppeln. Dörfer und Städte brannten. Betrunkene Soldaten verbrannten und plünderten Schulen, Schlösser und Denkmäler der materiellen Kultur. Es gibt im Oppelner Land Symbolorte des Jahres 1945. In Boguschütz töteten sowjetische Soldaten bei der mehrtägigen Besetzung Ende Januar über 200 Zivilisten. Ein in den Achtzigerjahren veröffentlichter Buchbericht über jene Ereignisse mit dem Titel „Na placz zabraklo lez” (Zum Weinen fehlten die Tränen) wurde zu einer der ersten populären Publikationen zu diesem Thema. In Ujest im Kreis Groß Strehlitz starben fast sechzig Menschen – Frauen, Männer und Kinder. In Gogolin ermordeten sowjetische Soldaten ein Dutzend Frauen, die sich versammelt hatten, um zusammen mit ihrem Priester zu beten. Zur gleichen Zeit kamen im Kreis Krappitz mehrere hundert Menschen aus der Hand der „Befreier” ums Leben. Die Beispiele ließen sich mehren. Es gibt übrigens eine umfassende Literatur darüber, aber leider meist in Deutsch und damit einem breiteren Leserkreis in Polen nicht zugänglich. An polnischen Schulen wird das Thema im Unterricht der regionalen Geschichte nach wie vor übergangen.

Beispiel Raschau:
Von den Bestialitäten sowjetischer Soldaten und dem rücksichtlosen Vorgehen der nachziehenden polnischen Diebe erfuhren schlesische Kinder über Jahrzehnte nur von ihren Eltern und Großeltern. Das Szenario des Januar 1945 war in jedem schlesischen Dorf sehr ähnlich. Man versammelte sich in Kellern, wo Gebete stattfanden. Frauen schwärzten ihre Gesichter, um Vergewaltigern die Lust zu nehmen. Männer versteckten sich im Wald oder in Erdhöhlen. Das Beispiel von Rauschau bei Oppeln ist eines von vielen: „Als es schon klar war, dass die Russen durch das Dorf ziehen werden, versteckten sich mehrere Männer in einem Keller am Ende des Dorfes”, erzählt Konrad Mientus, der 77-jährige Geschichtskenner aus dem nahe gelegenen Danietz. „Die Rotarmisten, die nach Tarnau unterwegs waren, bemerkten im Schnee Spuren, die in dieses Häuschen führten. Sie stürmten ins Innere und führten die verschreckten Bewohner heraus. Sie hielten sie für Partisanen. Man trieb sie durch das Dorf direkt zum „Blaut’schen Feld”, wo sie ohne Gericht erschossen wurden. Neun unschuldige Männer zwischen 17 und 75 Jahren kamen ums Leben. Sie ruhen heute in einem Massengrab auf dem Friedhof in Raschau. Beinahe jedes der umliegenden Dörfer hat seine Opfer. In seinem heimatlichen Danietz hat Mientus sieben Ermordete gezählt. In dem stillen und von Gott vergessenen Tempelhof starben 15 Menschen, darunter Piotr Halupczok, Helena Malolepsza, die Familie Kern, Maria Czech, die Geschwister Cichon und drei sich im Dorf versteckende Menschen aus Sczedrzik. Für jede dieser Familien war jener Januar vor 58 Jahren der tragischste Monat des Krieges.

Des Schlesiers Schicksal:
Das Schicksal von Menschen in den von der Roten Armee besetzten Gebieten war oft tragisch. Viele verloren ihr Leben. Hunderttausende mussten unter menschenunwürdigen Umständen aus ihrer Heimat auswandern. Andere gerieten in Arbeitslager im Gebiet der früheren Sowjetunion (auch Frauen), noch andere kamen in die in ganz Oberschlesien verstreuten Arbeits- und Durchgangslager für Auszusiedelnde. In dieser Hinsicht ist Lamsdorf im Oppelner Land, das in den letzten Jahren zum Symbol für das Nachkriegsschicksal der Schlesier wurde, keine Ausnahme. Für die meisten Schlesier der Vorkriegszeit stand die Ankunft Polens für Leid. Für die in ganz Europa verstreute Schlesier, die nach dem Krieg geboren wurden, ist dies ein wesentliches Fragment der Geschichte ihrer Familien und ihres Heimatlandes. Man darf es nicht vergessen. K. Cholewa

Anmerkung:
Vor ein paar Jahren unter der kommunistischen Herrschaft durfte dieser Artikel in dieser Zeitung nicht geschrieben werden. Eine Pressefreiheit war damals unbekannt.